Dialog mit dem Alter Ego über die Lage der Geistesmenschen-/Künstlernovelle
“Ich wollte, ein Glas Mineralwasser vor mir, nach 20 Jahren wieder einmal Die Verwirrungen des Zöglings Törless von Musil lesen, was mir nicht gelungen ist. Erzählungen ertrage ich nicht mehr, lese eine Seite und bin unfähig, weiterzulesen. Beschreibungen ertrage ich nicht mehr. Andererseits war es mir aber auch nicht möglich, mir mit Pascal die Zeit zu vertreiben, die Pensées kannte ich alle auswendig und der Gefallen an Pascals Stil erschöpfte sich bald. So begnügte ich mich mit der Landschaftsbetrachtung.”
Thomas Bernhard. Der Untergeher, Frankfurt, 1983, S. 85f
Nd: Wir sollten uns einmal die Frage stellen, was mit uns passiert ist, wenn es uns so geht, wie dem Erzähler im obigen Zitat. Was ist los mit uns, wenn wir die Ruhe und Geduld nicht mehr finden, ein Textangebot, welches ohne Zweifel zum Kanon der Weltliteratur gehört, auf uns wirken und sich entwickeln zu lassen? Sind wir übersättigt, haben wir die intellektuelle Neugier verloren, oder geht’s uns einfach nur schlecht?
Antwort vom Alter Ego von Noah denkt™ (AE): Thomas Bernhard meint wohl, dass dahinter ein Lebensüberdruss steht (siehe dazu Fußnote *), also eine geistige Übersättigung, ein Zuvertrautsein mit dem, was das intellektuelle Angebot der Welt hergibt.
Nd: Ist das auch die Meinung unseres Alter Egos?
AE: Sicher ist da was dran. Uns geht es etwa mit dem Kino- und Fernsehprogramm bis auf einige Ausnahmen ähnlich. Wie oft sind wir schon an der Langatmigkeit der Hinführung zum Thema verzweifelt, empfanden die propagierten Ansichten als vorhersehbar, oder wechselten den Kanal wegen üblicher Gestik und Mimik! Es kann also sein, dass wir einfach zu viel gesehen und gehört haben. Der Rückzug in die mediale, virtuelle Welt, egal ob alte oder neuen Medien, ist uns wohl nicht bekommen.
Nd: Noah denkt™ glaubt nicht, dass es am Medienkonsum oder am Überdruss liegt, dass wir diese Leseunlust verspüren. Schließlich ist es doch so, dass wir für Houellebecq und Bernhard immer noch die entsprechende Ruhe und Muße finden, – und das obwohl wir ihre Arbeit recht eigentlich kennen. Was hier abgeht, hängt unserer Meinung nach damit zusammen, dass die Lage in der digitalen Postmoderne so ernst geworden ist, dass sich Menschen, wie wir, nur noch denjenigen Texten öffnen können, die diesen Ernst in seiner Dringlichkeit verstanden und darauf originell und kompetent zu reagieren verstehen. Die alten Meister sind dazu verständlicherweise meist nicht in der Lage, weil sie das aktuelle Ausmaß der Banalisierung trotz aller Bemühungen nicht voraus zu erahnen vermochten. Denn wer konnte sich etwa in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorstellen, dass dereinst sogar Zeitungen nicht mehr gedruckt werden. Was aber die neuen Autoren angeht, so stehen sie schlichtweg vor dem Dilemma, dass mit Bernhard, Easton Ellis und Houellebecq das Wesentliche gesagt ist, und mithin keine Fortsetzung mehr nötig oder möglich ist.
AE: Wieso soll für die hohe Literatur keine Fortsetzung mehr möglich sein? Immerhin geht das Leben doch weiter und schreibt folglich auch neue Geschichten. Continue reading